Interview mit Philipp Hadorn, Präsident SEV-GATA
20 Jahre SEV-GATA: «Dass nicht alle Unternehmen einen GAV wollen, führt zu ungleich langen Spiessen»
Die SEV-Luftabteilung entstand vor 20 Jahren durch die Integration der Bodenpersonalgewerkschaft GATA in den SEV. 2017 folgte die Gewerkschaft Push. SEV-GATA vertritt heute über 7500 Beschäftigte, vor allem bei der Swiss, bei Swissport und weiteren Anbietern von Dienstleistungen an den Schweizer Flughäfen. Rück- und Ausblick mit Gewerkschaftssekretär Philipp Hadorn, der SEV-GATA seit 19 Jahren präsidiert.
Was ist vor 20 Jahren genau passiert? (siehe auch die Chronologie ganz unten und den separaten Artikel über SEV-GATA am Flughafen Genf.)
Philipp Hadorn: Auf den März 2004 lief der Kooperationsvertrag aus, den drei Jahre zuvor die Bodenpersonalgewerkschaft GATA (Groundstaff Aviation Technics and Administration) und der SEV abgeschlossen hatten. Also ging es darum zu schauen: Will man diese Zusammenarbeit auf Probe, dieses Konkubinat, weiterführen und wirklich Fakten schaffen oder nicht? Damals nahm sich der GATA-Vorstand durchwegs Zeit, Angebote verschiedener Gewerkschaften einzuholen. Nach einer Urabstimmung kam dann der SEV zum Handkuss.
Worüber stimmten die GATA-Mitglieder im März 2004 ab?
Sie mussten entscheiden, ob sie Teil des SEV werden wollten. Danach musste der SEV-Verbandsvorstand dem neuen Konstrukt SEV-GATA zustimmen, und im Oktober 2004 fand die Gründungsversammlung statt.
Wie war eigentlich der Kontakt zwischen SEV und GATA zustande gekommen?
Es ist fast eine romantische Geschichte: Die Kooperation wurde 2001 vom damaligen Vizepräsidenten des SEV-Verbandsvorstands, André Graf, vorgeschlagen. Dieser kam aus Basel, und seine Frau Olga war bei der Crossair tätig, wo Mitarbeitende einen GAV wünschten und deshalb die Gewerkschaft GATA gründeten. Sie kamen dann in Zugzwang, einen GAV auszuhandeln, ohne zu wissen wie. Als Olga und andere dies besprachen, kamen sie auf die Idee: Kann uns da der SEV helfen? Und André schaute, dass die Kooperation Realität wurde – kurz vor seiner Wahl zum höchsten SEV-ler.
Und wie bist du SEV-GATA-Präsident geworden?
Ich wurde vom SEV 2002 als Verhandlungsspezialist GAV SBB angestellt. Und weil ich Englischkenntnisse habe, wurde ich gefragt, ob ich auch das Luftverkehrsdossier übernehmen könnte, das zu Beginn noch ein Randdasein fristete, zumal während der Kooperation die GATA-Mitglieder noch gar nicht zum SEV gehörten. Diese noch relativ kleine Gruppierung im SEV wurde bald ein bisschen zu meinem Baby, weil ich dachte: Ihre Arbeitsbedingungen sind bedeutend prekärer als beim übrigen kollektiven Verkehr. Für diese Beschäftigten etwas zu erreichen, war für mich ein gewerkschaftlicher Anreiz. Nach drei Jahren als Vizepräsident folgte ich 2005 dem Wunsch, das Präsidium zu übernehmen.
Was waren in diesen 20 Jahren die grössten gewerkschaftlichen Herausforderungen?
Einerseits ist der Luftverkehr ein sehr volatiles internationales Geschäft, denn ein Krisenherd irgendwo, ein Vulkanausbruch oder nur schon Ängste können stets dazu führen, dass das Liniennetz kurzfristig angepasst werden muss, oder dass es zu einem Anstieg der Treibstoffpreise und Verlusten kommt. Daher ist diese Branche extrem anspruchsvoll und spannend. Andererseits war auch die Integration von GATA in den SEV eine Herausforderung, denn die Luftverkehrskultur ist nicht die gleiche wie die Bähnlerkultur. Auch wenn sich der SEV schon gewohnt war, mit den Branchen Pneu, Seilbahnen und Schifffahrt zu arbeiten, ist es bis heute ein laufender Prozess, all diese Arten kollektiver Mobilität auf einen Nenner zu bringen. Dazu kommt, dass es im Luftverkehr zwar internationale Regulierungen gibt, in der Schweiz aber die Arbeitsbedingungen nur wenig reguliert sind und grosse, namhafte Unternehmen keine GAV wollen. Das sind Herausforderungen bis heute.
Dazu kam 2020 die Pandemie, die quasi zu einem zweiten Grounding führte, nach dem Swissair-Grounding vom Oktober 2001 …
Ja, die Coronakrise zwang viele Swiss-Flugzeuge auf den Boden und hatte verschiedene Facetten: Einerseits war der Luftverkehr in der Schweiz als systemrelevant anerkannt, und es gab öffentliche Mittel, die den Betrieb absicherten. SEV-GATA setzte sich für Bundesgarantien für Bankdarlehen an die Swiss ein und für die Verlängerung der staatlichen Kurzarbeitsentschädigungen. Andererseits musste das Per-sonal viele Opfer bringen, zum Beispiel bei Kurzarbeit in der Regel auf 20 Prozent des Lohns verzichten. Bei der Swiss erreichten wir, dass sie bis 30. Juni 2020 die Lohnkürzung ausglich und bei Löhnen unter 4000 Franken im Monat auch weiterhin. Wir akzeptierten Frühpensionierungen und freiwillige Pensenreduktionen nebst natürlicher Fluktuation. Und Anfang 2001 ver-einbarten wir einen «Krisen-GAV» mit sozialverträglichen Einsparungen beim Personal im Gegenzug zum Versprechen der Swiss, mit der ganzen Belegschaft durch die Krise zu gehen, um für den Wiederaufschwung bereit zu sein. Doch dann kam ein neuer CEO, der nicht mehr zu diesem Wort stand, sondern aufgrund seiner Fehleinschätzungen entgegen unseren klaren, fundierten Argumenten eine Massenentlassung durchführte, was nachhaltig negative Folgen hatte für das Personal und den ganzen Betrieb bis heute. Entsprechend unserer Prognose nahm die Nachfrage rasch wieder zu und ist heute beinahe gleich gross wie vor der Pandemie. So kam es, dass Mitarbeitende schlichtweg fehlten und auch nicht so einfach zu rekrutieren waren und extreme Leistungen erbringen mussten, die eigentlich unzumutbar wären. Das gilt zum Teil bis heute, denn noch immer fehlen Leute. Auf das Betriebsergebnis wirkte sich der Personalabbau groteskerweise sehr positiv aus: Mit weniger Leuten mehr Gewinn einzufahren dank der Absage nicht ausgelasteter Flüge funktionierte.
Was waren die grössten Erfolge für SEV-GATA in den letzten 20 Jahren?
Erfolge hatten wir sicher dort, wo wir GAV neu erarbeiten konnten. Das Spannende war, dass die bei der Crossair gegründete GATA bei der Swissair nach deren Grounding im Oktober 2001 und deren faktischen Übernahme durch die Crossair über Nacht zur stärksten Bodenpersonalgewerkschaft wurde. Die Nachfolgegesellschaft Swiss, die am 1. März 2002 startete, brauchte einen GAV für das ganze Bodenpersonal, und da konnten wir angepasste kollektive Vereinbarungen erreichen – und nach mehreren Massenentlassungen auch wieder eine gewisse Stabilität für das Personal. Mit Swissport und anderen Unternehmen konnten wir auch erfolgreich GAV abschliessen und Lohnverhandlungen führen. Zum Beispiel war der Lohnabschluss bei der Swiss für 2023 der beste weit über den Organisationsbereich des SEV hinaus. Ein Erfolg war auch, dass GATA vor 20 Jahren überhaupt in den SEV kam: Das war eine Anerkennung der Leistungen des SEV als starke Transportgewerkschaft. Dies gilt auch für eine weitere Integration in SEV-GATA, die Organisation Push, die der SEV-Kongress 2017 guthiess und besonders bei Swissport einen Mitgliederzuwachs brachte.
Was waren die grössten Tiefs?
Sicher die Massenentlassungen in den ersten Jahren der Swiss. Bereits nach dem Swissair-Grounding wurde die halbe Belegschaft in die Wüste geschickt, und es folgten drei weitere Massenentlassungen, welche – anders als die vierte Massenentlassung während der Pandemie – noch ein wenig nachvollziehbar waren, weil damals das Geschäft wirklich am Boden lag. Das war ein Horror für die ganze Branche. Ich war auch einer derjenigen, die damals statt Sommerferien zu machen mit den Entlassenen in Einzelgesprächen nach Lösungen suchten. Für die Betroffenen war das eine dramatische Situation, die wir mit Sozialplänen immerhin erheblich abfedern konnten. Sozialpläne bieten wenigstens eine Linderung bei Krisensituationen.
Der Klimawandel ist eine grosse Herausforderung für den Luftverkehr. Wie entwickeln sich seine klimaschädlichen Emissionen?
Zwar sind auch andere Mobilitätsformen klimaschädlich, doch die Emissionsmengen des Luftverkehrs sind zurzeit noch besonders gross. Neu investiert die Branche aber massiv in den Klimaschutz. Die Swiss zum Beispiel hat unter dem bisherigen CEO überdurchschnittliche Massnahmen zur Emissionssenkung getroffen, auch am Boden. Generell werden heute bereits erneuerbare Treibstoffe beigemischt, und die Forschung und Pilotprojekte zur Nutzung erneuerbarer Energien laufen auf Hochtouren. Es gilt in diesem internationalen Geschäft sicherzustellen, dass global Pflöcke eingeschlagen werden. Seitens Gewerkschaften haben wir diesbezüglich via ETF und ITF weitgehend Konsens, was seitens Industrie leider noch nicht der Fall ist.
Sonstige aktuelle Herausforderungen für SEV-GATA?
Die Unternehmen versuchen zunehmend, die wirtschaftlichen Risiken ihres volatilen Geschäfts auf die Mitarbeitenden abzuwälzen, indem sie ihnen einen möglichst tiefen Basislohn geben und dazu eine Gewinnbeteiligung, wenn es gut läuft, aber nichts, wenn es schlecht läuft. Dagegen wehren wir uns mit gewissem Erfolg. Dazu kommt noch die Problematik, dass wir noch nicht ausreichend Unternehmen in Vertragspartnerschaften führen konnten. Daraus folgen ungleiche Spiesse, beispielsweise Swissport sieht sich einer vertragslosen Konkurrenz gegenüber. Das versuchen wir zu ändern, sogar mit unseren Sozialpartnern zusammen. Auch der Flughafen Zürich sollte endlich vernünftig werden und mit uns einen GAV abschliessen. Unser Fokus bleiben sichere Arbeitsplätze zu guten Arbeitsbedingungen. Dafür setzen wir uns in aller Konsequenz ein, und da gibt es noch einiges zu tun.
Markus Fischer
Chronologie: 24 Jahre GATA
Die Geschichte der SEV-Luftabteilung begann schon vier Jahre vor ihrer eigentlichen Gründung mit der Entstehung der Hausgewerkschaft GATA bei der Regionalfluggesellschaft Crossair. Dass sie mal die grösste Schweizer Bodenpersonalgewerkschaft z. B. bei der Swiss werden würde, ahnte damals niemand.
Juli 2000: Crossair-Mitarbeitende gründen die Groundstaff Aviation Technics and Administration.
1. März 2001: GATA und SEV vereinbaren dreijährige Kooperation.
2. Oktober 2001: Weil die Swissair insolvent ist, bleiben ihre Flugzeuge am Boden. Banken, Bund und Kantone schiessen Geld ein, doch Tausende Mitarbeitende verlieren ihre Stelle. Die Führung geht faktisch an die Crossair über, und auf deren Grundlage wird eine Nachfolgegesellschaft vorbereitet. Für deren Bodenpersonal wird GATA zuständig.
1. März 2002: Start der Swiss mit 10 500 Stellen – wovon bis Mitte 2006 noch die Hälfte übrigbleibt.
April 2002: Erster Bodenpersonal-GAV bei der Swiss.
März 2004: Die GATA-Mitglieder stimmen für die Integration in den SEV.
30. September 2004: Swiss kündigt den Bodenpersonal-GAV.
28. Oktober 2004: Versammlung zur Gründung von SEV-GATA.
14. März 2005: SEV-GATA protestiert gegen Massenentlassungspläne der Swiss und gegen Verschlechterungen beim GAV. Am 31. März kommt dann ein GAV ohne Verschlechterungen zustande.
22. März 2005: Lufthansa einigt sich mit den Grossaktionären der Swiss auf deren schrittweise Übernahme in den Lufthansa-Konzern und garantiert die Beibehaltung des Hubs Zürich und der Marke Swiss.
2008: Auslagerung der Swiss Technik in die Lufthansa Technik Switzerland (LTSW). SEV-GATA erreicht dort 2009 einen GAV. 2012 baut LTSW viele Stellen ab und schliesst den Standort Basel 2013. Mitarbeitende wechseln zum Teil zur Swiss, für andere tritt der Sozialplan in Kraft.
Dezember 2012: Vertrag mit der Swiss zum Lohngleichheitsdialog.
Mai 2015: Die Swiss stellt den Flugbetrieb in Basel ein.
2016: Die Swiss macht hohe Gewinne und baut die Flotte aus, SEV-GATA fordert mehr Personal.
1. Juli 2017: SEV-GATA integriert den Personalverband Push mit rund 500 Mitgliedern: in Zürich vor allem bei Swissport und SBS, in Genf bei Swissport, ISS und Priora – wo SEV-GATA damit Sozialpartner wird.
Mai–November 2018: GAV-Verhandlungen bei Swissport und SBS in Zürich.
Ab März 2020: Die CoronaPandemie schränkt den Luftverkehr stark ein. SEV-GATA macht sich für Kurzarbeitsentschädigungen und Bundeshilfe stark, der Bund gibt der Swiss Garantien für Bankdarlehen. Im März 2021 schliesst SEV-GATA mit der Swiss einen Krisen-GAV ab. Dennoch nimmt die Swiss ab Mai eine Massenentlassung vor. Diese führt zu Personalmangel, sobald wieder mehr geflogen wird – bis heute.
11. September 2020: Am Zürcher Flughafen protestieren 1500 Leute gegen die Verschlechterung des Swissport-GAV. Im Dezember kommt dann ein «Krisen-GAV» zustande.
Oktober 2020 bis Juli 2021: Vertragsloser Zustand bei Swissport Genf, es folgen Änderungskündigungen und eine monatelange Mobilisierung des Personals. Erst nach einem Streik am 14. Juli 2021 und dank Vermittlung des Kantons Genf wird ein Krisen-GAV möglich. Im März 2022 wird ein neuer GAV abgeschlossen.
23. Juli 2022: In Kloten protestieren erneut über 200 Swissport-Mitarbeitende. Im Oktober nimmt das Personal dann einen neuen GAV an.
2023: Nach einem ausgezeichneten Lohnabschluss bei der Swiss für 2023 und zusätzlichen Lohnverbesserungen für das Technikpersonal sind die Lohnverhandlungen 2024 bei der Swiss schwierig, ebenso bei Swissport.